Ready care

Ready Care: Das Auto wird zum „big brother“

Die Zahl der Assistenten steigt. Nun soll Künstliche Intelligenz Einzug halten: Droht mit Ready Care „big brother“ im Auto?

Immer mehr Assistenten fluten die modernen Autos. Nicht immer halten sie sich vornehm zurück, um dann im richtigen Moment (vielleicht lebensrettend) einzugreifen, wie etwa das unverzichtbare ESP. Nein, mache Assistenten können schon ganz schön nerven wie etwa manche Spurhalteassistenten, die entweder warnen, wenn man dem Mittelstreifen zu nahe kommt, oder gar kräftig gegenlenken.

Oder man fühlt sich überwacht wie beim Müdigkeitswarner, der nach zwei Stunden ein Pling von sich gibt und eine Kaffeetasse zeigt. Manche Autos piepsen und klingeln hektisch beim engen Aus- und Einparken, so dass man kaum weiß, wo man hinschauen soll. Die Frage stellt sich: Fühlen Sie sich davon bevormundet, genervt? Schalten Sie die Helferlein ab?

Assis: Nicht mehr wegzudenken

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich finde die Assis sehr hilfreich und möchte sie nicht missen. Nun aber bin ich bei einer Meldung ein wenig ins Grübeln gekommen, ob hier nicht über das Ziel hinausgeschossen wird. Denn die Samsung-Tochter Harman hat mit „Ready Care“ ein Assistenzpaket geschnürt, das per Künstlicher Intelligenz (KI) den Menschen am Steuer immer besser kennen lernt und für dessen Wohlbefinden sorgt.

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Puls und Augenbewegungen werden von Ready Care ständig überwacht. Fotos: Harman

Was ist Ready Care?

Und wie funktioniert das neue System, was kann es alles? Vereinfacht ausgedrückt holt Harman bei Ready Care aus den sowieso schon vorhandenen Kameraaufnahmen des Fahrenden wesentlich mehr heraus als bisherige Systeme. Dank einer leistungsfähigen Hardware inklusive Infrarotkameras, dem Einsatz von Algorithmen für maschinelles Lernen und einer mit Neurowissenschaftlern und Medizinern entwickelten Software wird in Echtzeit die visuelle und mentale Belastung des Fahrers gemessen.

Ein Blick ins Bewusstsein

Das ermöglicht sozusagen einen Blick ins Bewusstsein des Menschen am Lenkrad. Und die Differenzierung von Ablenkungs-Zuständen: Fühlt er sich körperlich unwohl, ist er schlicht müde, denkt er intensiv über etwas nach, das gar nichts mit seiner Fahrstrecke zu tun hat? Alle diese Einflüsse mindern die Aufmerksamkeit und erhöhen die Gefahr von Unfällen. Zudem wird auch der Puls permanent überprüft. Entweder durch eine ans System gekoppelte Smartwatch oder durch eine spezielle Funktion der Infrarot-Kamera, zu der man bei Harman aus nachvollziehbaren Gründen nichts Genaueres sagen will.

Der Puls wird permanent überprüft

„Wir können feststellen, ob der Fahrer nur schaut oder auch sieht“, beschreibt Anil Hariharakrishnan, Director Product Engineering bei Harman, eine der entscheidenden Neuheiten bei der Fahrer-Überwachung. Anhand der Augenbewegungen, der Reaktionszeit und weiterer Parameter wird erkannt, ob sich das Gesamtsystem aus Fahrer und Fahrzeug im grünen Bereich befindet. Oder ob etwas falsch läuft.

Ein Fülle von Maßnahmen

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Bei Bedarf schlägt Ready Care eine stressfreie Route vor.

Für letzteren Fall steht dann eine ganze Phalanx von Interventionsmaßnahmen parat. Ein probates Mittel, um Wohlbefinden und Aufmerksamkeit zu erhöhen, ist die Absenkung der Innentemperatur um ein, zwei Grad. Oder die Ventilation des Fahrersitzes. Erkennt Ready Care emotionalen Stress, wird etwa die Ambiente-Beleuchtung umgestellt, die Lautstärke des Soundsystems heruntergefahren oder eine zur Situation passende Musik gewählt. Und das Navigationssystem schlägt im Zweifelsfall eine stressfreiere Route vor. Alles zusammen soll zum aufmerksameren und entspannteren Fahren beitragen, kann aber natürlich keinen müden Piloten dauerhaft munter machen – das ist den Ready-Care-Schöpfern klar.

Das System könnte den Rettungsdienst rufen

Als Tüpfelchen auf dem i, als klaren Game-Changer, sehen sie die permanente Überwachung des Pulsschlags. Über diesen lässt sich nämlich erkennen, ob der Mensch am Steuer beispielsweise ängstlich ist. Wurde eine Warnleuchte aktiviert? Fürchtet der E-Auto-Fahrer, mit leerem Akku liegen zu bleiben? Auch in solchen Situationen greift das System unterstützend ein und schlägt etwa die nächste Halte- oder Lademöglichkeit vor. Ebenfalls vorstellbar: Nachdem Forscher in den USA ein Muster entdeckt haben, nach dem Herzrhythmusstörungen etwa fünf Minuten im Voraus vorhergesagt werden können, könnte Ready Care den Betroffenen warnen, damit er anhält und Hilfe holt. Oder das System alarmiert gleich selbsttätig den Rettungsdienst.

Der Blick ins Denken

Wie exakt die Messungen bei Harman sind, zeigt eine simulierte Testfahrt durch San Francisco, während der Gedächtnistrainings-Aufgaben gelöst werden sollen. Die in zwei Farben dargestellten Messkurven für die Aufmerksamkeit aufs Fahren und die fahrfremden Nachdenk-Aktivitäten lassen auf die Sekunde genau erkennen, wann die erste Aufgabe dran ist – und wie gleichzeitig die Konzentration fürs Fahren auf ein in der Praxis gefährliches Minimum absinkt.

Wie erfahren ist der/die Fahrer/in?

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Gefahr im Verzug: Das System signalisiert extreme Ablenkung beim Fahrer.

Je nach Kurvenverlauf erkennen die Harman-Ingenieure auch, wie erfahren oder ungeübt der Mensch am Lenkrad ist. Bei versierten Piloten pendelt sich nämlich nach einer gewissen Zeit ein annäherndes Aufmerksamkeits-Gleichgewicht ein, bei Neulingen bleibt die Konzentration aufs Denken bestimmend – mit negativen Folgen für die Fahrsicherheit. Die Auto-Insassen können ihren mentalen und körperlichen Zustand auf einem Display erkennen, in Form von Grafiken, die je nach Zustand zwischen Grün (entspannt) und Rot (gestresst, müde) gefärbt sind.

Das System lernt ständig dazu

Für Armin Prommersberger, Senior Vice President Automotive Product Management bei Harman International, ist Ready Care „ein Co-Pilot, der erkennt, wann Ablenkungen zu gefährlichen Situationen werden könnten und eingreift, um diese zu vermeiden.“ Zum ersten Mal könne das Fahrzeug wissen, was der Fahrer denke. Mehr noch: Durch KI lerne das System ständig dazu und entwickele personalisierte Programme für jeden einzelnen Nutzer. Customer Engineering-Manager Marcus Futterlieb spricht in diesem Zusammenhang von einem „Komplettverständnis vom Fahrer“, betont aber im gleichen Atemzug: „Diese Daten werden das Auto nicht verlassen.“

Schon bald in der Serie

Das Ready im Produktnamen steht laut Prommersberger für schnelle Verfügbarkeit. Er quantifiziert die Zeit bis zum möglichen ersten Einsatz auf „sechs bis zwölf Monate“. Will heißen: Ready Care ist wirklich fertig ausentwickelt und serienreif. Nach einem ersten Auftritt auf der North American International Auto Show in Detroit im September dieses Jahres wollen die Ingenieure auf der CES in Las Vegas (5. bis 8. Januar 2023) die Fachwelt von ihrer Entwicklung überzeugen. HM/SP-X

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